„Viele Worte für den Begriff Mord“
Zum 50. Todestag des Pioniers der NS- und Holocaust-Forschung.
Vortrag von Nicolas Berg, Leipzig.
Der Beginn der Holocaustforschung in Deutschland war das Werk eines Einzelnen. Lange bevor die westdeutsche Geschichtswissenschaft damit begann, das Thema in den Blick zu nehmen, hat der Historiker und Auschwitzüberlebende Joseph Wulf (1912–1974) eine ganze Serie von Grundlagenwerken und Quellendokumentationen publiziert, die ersten zusammen mit dem Historiker Léon Poliakov. Diese Bücher – wie etwa „Das Dritte Reich und die Juden“ (1955), „Das Dritte Reich und seine Helfer“ (1956) und „Das Dritte Reich und seine Diener“ (1959) – haben so gut wie alle späteren Debatten vorweggenommen, einige um Jahrzehnte. Das gilt für die Frage nach der Rolle von Zivilverwaltung, Auswärtigem Amt, Universitäten und Wehrmacht am Geschehen; es gilt für die methodischen Reflexionen über Singularität und Vergleichbarkeit, Objektivität und Perspektivität, Täter- und Opfergedächtnis; es gilt für die Frage nach der historischen Verwurzelung des Antisemitismus in Deutschland und es gilt auch für das Problem der Belastung der politischen Kultur der Bundesrepublik durch die personellen Kontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie.
Der Vortrag von Dr. Nicolas Berg führt in das Lebenswerk von Joseph Wulf ein; er geht dem Umgang von Wulf mit der Sprache der Täter nach, vor allem mit der Verwaltungsbegrifflichkeit des Mordens („Sonderbehandlung“, „Endlösung“); und er fragt nach den Gründen für die spezifische Form der „Dokumentarhistoriographie“, die Wulf in den 1950er und 1960er Jahren favorisierte.
Dr. Nicolas Berg ist Historiker, Leiter des Forschungsressorts "Wissen" am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow. Er lehrt und forscht über jüdische Geschichte und Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. Zuletzt erschien die von ihm eingeleitete und kommentierte Neuedition der Quellensammlung von Walter Boehlich, die dieser 1965 unter dem Titel „Der Berliner Antisemitismusstreit“ publizierte (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2023). In seinem Buch „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker – Erforschung und Erinnerung“ (2003) hat er sich erstmals mit Leben und Werk von Joseph Wulf befasst.
Deutsch-Israelische Gesellschaft Bremen/Unterweser e.V. E-Mail: hermann.kuhn@brainlift.de